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Was hat der Homo Oeconomicus in unseren Betten zu suchen?

Autor: Claus Triebiger

Die Frage, der ich in der Weiterbildung gemeinsam mit den Teilnehmer*innen nachgehen wollte, war die, ob und inwieweit die Strukturen des „Kapitalismus“ unsere intimsten Beziehungen überformt haben. Angebot und Nachfrage, Leistung und Gegenleistung, Frequenzanalysen, Ausschöpfen aller Möglichkeiten, Werbung, Kauf und Verkauf, Konsumverhalten, Wertschöpfung, Gewinnmaximierung und Verlustgefühl, Bilanzierung, Saldierung und Effizienzsteigerung durch Technologie: Sind all dies nicht Vorgänge, die unsere Sexualität bis ins letzte Blutplättchen prägen? Sind Begriffe wie „Lebensabschnittsgefährt*in“ nicht vor 50 Jahren noch schwer denkbar gewesen? Woher kommt der zunehmende „Change“ in den Betten und in den Trennungs- bzw. Scheidungsstatistiken? Wie kommt eine amerikanische Unternehmerin auf die Idee, Kondome mit eingebautem Computerchip =wearable)  zu entwickeln, der die Stoßfrequenz des Mannes zählt und auf das Smartphone überträgt?

Können wir von dem, was das berufliche Changemanagement von uns täglich fordert, nachts und unten rum einfach nicht mehr lassen?

Leistung und Gegenleistung: Aufrechnung auch im Bett?
Ich erinnerte mich an einen Klienten, der sich hoch überschuldet hatte, daraufhin in Streit mit seiner Ehefrau geraten ist und vor mir saß, eine Lösung suchte. Das Verbraucherinsolvenzverfahren bietet eine Restschuldbefreiung normativ an. Insofern also gab es keine sonderlichen Beratungsschwierigkeiten, was die finanziellen Verhältnisse anbelangte.

Im Laufe des Gespräches stellten sich dafür schwerwiegende „Paarprobleme“ heraus. Gegenseitige Erwartungen erfüllten sich nicht mehr. Während des Gespräches schaute er mich auf die Frage, wie denn die Finanzen des Haushaltes geregelt wären, erstaunt an und sagte, dass alles „sauber auf Leistung und Gegenleistung beruhen“ würde. Jeder habe ein eigenes Konto. Es wird auch ganz genau Buch geführt, über jedes Telefonat, den Verbrauch von Kilowattstunden beim Duschen, jede Ausgabe, alles wird in Zahlen und Ziffern umgesetzt. Das wäre ganz einfach die effektivste Herangehensweise. Am Ende des Monats würde man aufrechnen und sich gegenseitig Rechnungen erstellen, die zu bezahlen seien. So war er auch bei seiner Ehefrau mit rund 8000 Euro verschuldet. Man habe eine Art Vertrag geschlossen, an den sich beide halten. Er erzählte schließlich, dass die Aufrechnung auch im Bett stattfinden würde. „Sie verstehen doch sicher, sagte er „ich geh arbeiten und bring mehr Geld nach Hause als sie, dafür erwarte ich, dass sie zweimal pro Woche mit mir schläft, das ist doch dann mein gutes Recht, nicht wahr?“

Die Frage nach den Strukturen, die unsere Entscheidungen und Handlungen bestimmen, nach den Codierungen, wie es in der Soziologie auch heißt, ist nicht neu. Seit vielen Jahren wird geforscht. Erstaunlich ist für mich dann, wie überraschend die oben aufgeführten Fragestellungen doch für manche Menschen sein können. In der Weiterbildung „Systemische Paar- und Sexualberatung“ wurde ein soziologischer Input mit aufgenommen. Im Rahmen einer an psychologischen und therapeutische Methoden ausgerichteten Weiterbildung lässt sich das als ein kleines Experiment bezeichnen. Es ging um Erkenntnis-, nicht vordergründig um Hilfe- oder Heilprozesse.

Liebe = gottgegeben oder Passion? Eine Frage der Kultur!
Vorgestellt wurde zunächst einmal Niklas Luhmanns These von den sich aneinander anschließenden Kommunikationen und den sich dadurch beständig neu erzeugenden Kommunikationen in einem zirkulären Prozess. Über die Idee, dass es eine hohe Unwahrscheinlichkeit wirklichen Verstehens gibt, bearbeiteten wir Symbole des Verstehens, die dazu führen, dass wir trotz der Unwahrscheinlichkeit doch relativ viel miteinander „gebacken bekommen.“ Symbolisch generierte Kommunikationsmedien, wie Liebe, Macht, Geld, Hierarchie, Wissen, Kunst u.ä. unterstützen uns beim Prozess des Annäherns an ein symbolischen Verstehen. Vieles muss nicht mehr ausgesprochen werden. Verstehen wird somit zum stillschweigenden oder auch lauten Aushandlungsprozess. War in vormodernen Zeiten Liebe als „gottgegeben“ codiert, so wandelte sich die Codierung in den Übergängen zur Moderne zum Code von Romantik, schließlich Freiheit und Leidenschaft. „Liebe als Passion“ titulierte Luhmann denn auch sein im Jahr 1982 erschienenes Buch.

Führt Schnelllebigkeit zur Entfremdung bei Paaren?
Wir diskutierten denn auch spätmodern leidenschaftlich über diese abstrakte Herangehensweise an ein Gefühl, das uns alle zutiefst umtreibt. Wir nahmen uns dann ein Symbol der Annäherung an Verstehen heraus, die Sprachform der Metapher und beschäftigten uns mit der Leitmetapher unserer von den Vorstellungen des Neoliberalismus durchsättigten Kultur. Es ist die Metapher „Zeit ist Geld“, die von Benjamin Franklin Ende des 18. Jahrhunderts geprägt worden ist. Mit dieser Metapher setzte eine enorme Beschleunigung im technischen und sozialen Bereich ein, beschleunigte sich auch unser Lebenstempo.

Heute essen wir schneller, schlafen wir weniger, bewegen uns schneller im öffentlichen Raum, verwenden weniger Zeit für Körperhygiene produzieren schneller, als noch vor dreißig Jahren und so weiter. So jedenfalls führt es uns Hartmut Rosa in seinem Buch „Beschleunigung“ vor. Die Beschleunigung in allen Bereichen birgt die Gefahr einer tiefen Entfremdung uns selbst und anderen Menschen gegenüber, Entfremdung gegenüber Dingen, der Kultur, der Raum, der Zeit, der Natur. Beschleunigung kann im schlimmsten Fall zu einem völligen Verstummen unserer Weltbeziehungen führen. Ich denke es überrascht dann niemanden mehr, dass solche Zeitstrukturen möglicherweise auch etwas mit Entfremdung im Paarbereich, im Bereich der Sexualität zu tun haben könnten. Das eigentlich Schlimme sei aber, so Rosa, dass wir diese Zeitstrukturen als natürlich gegeben empfinden. Zeitmetaphern sind jedoch sozial geformt, sind Konstrukte und nicht vom Himmel gefallen. Sie sind somit verhandel- und dekonstruierbar.

Selbstverständlich ist die Metapher „Zeit ist Geld“ ziemlicher Unsinn. Man braucht hier nur Menschen zu fragen, die mit der Aussicht, nur noch wenige Monate leben zu können, zurande kommen müssen. Zeit lässt sich weder totschlagen, noch verlieren, sich lässt sich nicht verschwenden, aber auch nicht verschenken. Um das zu können, müsste Zeit ein Ding sein. Alle diese Metaphern sind eigentlich Beziehungsaussagen.

Auch Eva Illouz untersucht, inwieweit der Konsumkapitalismus und die Kultur der Moderne unser Gefühls- und Liebesleben verändert haben. Sie „möchte verstehen, was an den kulturellen und politischen Idealen der sexuellen Moderne womöglich von ökonomischen und technologischen Kräften vereinnahmt oder entstellt worden ist, die im Widerspruch zu Idealen und Normen stehen, in denen wir die Wesensmerkmale der Liebe sehen“ (Warum Liebe endet, Frankfurt, 2018 )
Zwischen Hartmut Rosas und Eva Illouz‘ Studien und Analysen lässt sich ein Zusammenhang sehen. Rosa zitiert in seinem lösungsorientierten Werk denn auch die Werke von Eva Illouz .

Nachdem wir im Seminar an den von Rosa beschriebenen „rasenden Stillstand“, an die „rutschenden Abhänge“ und die „Gegenwartsschrumpfung“ als mögliche Folgen der sich ständig selbst verstärkenden Beschleunigungsstruktur gelangten, war uns nach „Lösungen“. Die gequälte systemische Innerlichkeit brandete heftig auf, da wir nicht gerne im Desaster und im Modus der Kritik verharren. Ja, es ist schlimm, ja es ist bedrohlich, ja, wir müssen scharf kritisieren, aber was können wir praktisch tun um gegenzusteuern? Ich versprach das am Nachmittag zu skizzieren.

Resonanzsensiblität für eine neue Sexualität
Rosas Antwort auf das Verstummen der Welt, auf Entfremdung, auf die Neoliberalisierung spätmoderner Ehebetten ist das Konzept der Resonanz. Er deutet diese Verwerfungen als Resonanzkatastrophe und beschreibt in seinem Buch „Resonanz, eine Soziologie der Weltbeziehung, (Frankfurt, 2017) wie verlorene Resonanzsensibilität entgegen „totalitärer“ Zeitstrukturen wieder hergestellt werden könnte. Durch die Wiederbelebung von Weltbeziehungen in Form gelebter Resonanzachsen kann das Subjekt Resonanzsensibilität sukzessive zurückgewinnen. Wir schauten uns die Resonanzachsen an und arbeiteten uns an der Frage entlang, mit welchen Methoden die diversen Resonanzdrähte, mit dem Körper als Medium zur Welt ,(dann Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, bürgerschaftliches Engagement, Arbeit, Verein, Sport, Konsum, Beziehung zu Dingen, Natur, Religion, Raum, Zeit, Spiritualität) wieder ins Vibrieren gebracht werden könnten.

Es liegt auf der Hand, dass mit zunehmender Rückgewinnung von Resonanzsensibilität auf allen Ebenen auch die Sexualität bzw . die autopoietische Kommunikationsstruktur von Paaren eine Chance auf Neustrukturierung haben.

Alles in allem signalisierte das Feedback seitens der Teilnehmer*innen, dass das Experiment gelungen war. Auch in einem psychologisch/therapeutischen Umfeld lassen sich erarbeitete Perspektiven der Soziologie partnerschaftlich nebeneinanderstellen, können sich „psychological man“ und „homo sociologicus“ zu einer ganzheitlichen Sichtweise zusammenfügen.

Den „homo öconomicus“ aber, den sollten wir von unseren Bettkanten kicken!

 

Literaturempfehlung:
- Luhmann, Niklas, Liebe als Passion, 1982
- Rosa, Hartmut, Beschleunigung, 2005
- Illouz, Eva, Warum Liebe endet, 2018