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Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe: Warum er mich fasziniert

Ein Beitrag von Claus Triebiger

Zunächst mal, am Anfang aller Faszination, selbstverständlich sein Geburtsjahr. Harald Welzer ist am 27. Juli 1958 geboren, wird in diesem Jahr also sechzig Jahre alt. Ein wunder-voller Jahrgang, da er, genau wie ich selbst, in einer offensichtlich recht religiösen Phase geboren worden ist. Das Wunder, das seinerzeit über die Menschen herniedergefahren ist, nannte sich Wirtschafts-wunder und in diesem Glauben sind er und ich wohl um die 1,80 groß geworden. So eine Biographie macht was mit einem.

Das hat er heute noch nicht verloren, den Glauben an ein Wunder. Zum Beispiel den Glauben daran, dass es die Menschheit als Gesamtes noch schaffen könnte, die mittlerweile über statistische Messungen hinaus augenfälligen Prozesse schleichender Veränderung in den Rückkoppelungen von Bio-Atmo-Hydro-Geosphäre im Sinne unserer Weiterexistenz zu steuern.

Buchcover

Zukunftsvisionen des Instituts Futur.Zwo
Waren seine soziologischen Vorläufer der Frankfurter Schule noch überaus pessimistisch, wenn es um die Frage ging, ob es ein richtiges Leben im Falschen geben könne (Adorno), ob also die Überformungen und Verwerfungen, die dominierende Lebensformen auslösen, überwunden werden können, so setzt Welzer auf das Beobachten „gelingender Projekte“. Er gründete ein Institut namens Futur.Zwo. Das freut das Systemiker*innenherz, lehren wir doch, dass Visionen in der grammatikalischen Form des Futur 2 formuliert werden sollen, damit entsprechende erste Schritte im Hier und Jetzt angeregt werden können.

Das Institut unter seiner Leitung gibt einen regelmäßig erscheinenden Zukunftsalmanach heraus, der gelingende Projekte beschreibt, die in dieser oder ähnlicher Form weltweit von Millionen von Menschen auf den Weg gebracht werden. Es gibt keine zentrale Leitung, die diese Projekte steuert, keine Leitidee, keinen Leitwolf und keine Leitwölfin. Sie werden einfach initiiert, ohne großen ideologischen Ballast. Sie wachsen organisch-evolutionär heran, im Kommunikationsmedium der Selbstorganisation.

Solidarische Landwirtschaft
Als eines der vielen Beispiele mag hier das Projekt der solidarischen Landwirtschaft dienen, das ganz gut fokussiert, worum es geht. Zwischen Menschen, die sich dem Projekt anschließen, und einem landwirtschaftlichen Betrieb wird eine Vereinbarung getroffen. Jeder beteiligte Haushalt bezahlt einen monatlichen Beitrag an den Landwirt, beispielsweise für einen 4-köpfigen Haushalt einen Betrag von 70 EUR. Für die Haltung zwischen dem Betrieb und der Beitragszahlerin ist es wichtig zu wissen, dass kein Kauf- und Verkaufgeschäft zustande kommt. Es ist ein Beitrag zur Absicherung und Förderung des landwirtschaftlichen Betriebes. Im besten Fall kommen zweihundert Haushalte zusammen, die, je nachdem wie viele Personen in diesen Haushalten versorgt werden müssen, dem Betrieb eine feste Grundeinnahme sichern. Ob es also hagelt, stürmt, eine Dürre Ernten erschwert, der Landwirt ist abgesichert gegenüber den Wechselfällen des Klimas. Und wenn es gelegentliche Mithilfen braucht in besonderen Fällen, kann der Betrieb auch auf die Arbeitskraft zurückgreifen. Er ist auch frei von Vorgaben seltsamer Gurkenverordnungen oder Produktionsauflagen. Für diesen Beitrag verspricht der Betrieb die Versorgung der jeweiligen Haushalte mit biologisch in Demeterqualität angebauten Gemüseprodukten. Die Produkte werden wöchentlich bereitgestellt, die Haushalte holen sich ihr Gemüse ab. Das von Welzer im Zukunftsalmanach bescrhiebene Projekt umfasst derzeit rd. 170 landwirtschaftliche Betriebe, die jeweils durchschnittlich 150 Haushalte versorgen. Gemessen an den Dimensionen der konventionellen Landwirtschaft nicht sonderlich viel, aber ein möglicher Keim künftiger landwirtschaftlicher Produktion. Herausragend, und ich meine systemisch, sind die Kommunikationsstrukturen innerhalb des Projektes. Es gibt im Prinzip keinen Chef, keine Chefin, die Landwirtin (beispielsweise der Luisenhof in der Nähe von Schöneck, Wetterau) stellt sich und ihr Equipment, bzw. die Arbeitskraft der Gemeinschaft zur Verfügung. Es ist ein Aushandlungsprozess zwischen den Beteiligten, was angebaut werden soll, und mit welchen Mitteln. By the way lernen die Beteiligten, was ein solidarischer Kommunikationsprozess sein sollte, lernen Methoden der Entscheidungsfindung (es wird im Konsensverfahren entschieden) und kommen auf die Idee, sich auch in anderen Bereichen ähnlich zu organisieren, beispielsweise beginnen einige Haushalte auch sich bezüglich Handwerkzeug, und der Nutzung von Fahrzeugen untereinander abzusprechen. Es entstehen kleine Zellen von Gemeinwohlökonomie.

Beschrieben werden zahlreiche Projekte der Umverteilung, Projekte neuer Überlebens- , Verteilungs, bzw. Gestaltungstechniken. Lustig beispielsweise auch die Aktionen des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“, der sich gegen Zeitdruck und Zeitwahn stellt.

Es sind Projekte, die in den Nachrichtensendungen dieser Welt nicht vorkommen. Die Welt sähe möglicherweise anders aus, wenn die Tagesschau jeden Abend um 20.00 Uhr von einem „gelingenden Projekt“ des Tages berichten und damit Bewusstsein framen würde.

Hochsystemische Vorgehensweise: Den Blick für gelingende Projekte öffnen
Nur das, was in die Kommunikation gelangt, gewinnt an gesellschaftlicher Relevanz, formulierte Niklas Luhmann einmal sinngemäß. Für mich unterläuft Welzer diese Nachrichtenprogrammatik, in dem er gelingende Projekte aufspürt, beforscht, zugänglich macht und auch auffordert, selbst etwa zu initiieren, damit aus der „Problemtrance“ herauszukommen. Den Fokus nicht nur auf Mord, Totschlag, Krieg, Vergewaltigung, Flucht und Zerstörung zu richten, ist eine Vorgehensweise, die ich hochsystemisch nenne, wofür er und die Leute mit und um ihn allerhöchste Wertschätzung erfahren sollten.
Ein zweiter Aspekt, und ich will es auch vorerst nur einmal bei diesen beiden Aspekten belassen, ist seine Untersuchung, wie aus normalen Menschen Massenmörder werden können (Buch: Täter. Wie aus normalen Menschen Massenmörder werden).

Janusgesicht: Die systemische Schleife
Für mich als Systemiker ist die Analyse des Massenmordes, die er in seinem „Täter“-Buch vornimmt, ziemlich schockierend . Welzer beschreibt den Prozess der Vernichtung der europäischen Juden als systemischen, sich durch positive und negative Rückkoppelungen selbst erhaltenden und stetig weiter verstärkenden Prozess. Ich sehe darin die Anwendung der „Systemischen Schleife“.

Die systemische Schleife, als heilbringende Vorgehensweise in systemischen Weiterbildungen gelehrt, kann, unter Verschiebung des Referenzrahmens, selbstverständlich auch zu ausgrenzenden und brutalen Wirkungen führen. Es ist ein effektives Werkzeug, eine effiziente Methode, anwendbar bei einfachen Beratungsgesprächen aber auch bei hochkomplexen Aufgabenstellungen.

Welzer beschreibt in seinem Buch (Täter) eindrücklich den Prozess des Holocaust als systemischen Optimierungsprozess, der nicht mit dem großen Plan als ein von Oben nach unten durchdeklinierter und implementierter Prozess begann, sondern mit Informationen, Beobachtungen und offenen Weisungen von oben, die vor Ort, bis hinab zu einzelnen Individuen interpretiert und dann in zunächst kleinen Schritten, gebunden an Hypothesen der Effektivität (erste Erschießungen) recht emsig, manchmal aber auch zögerlich, umgesetzt wurden. Ein vielgestaltiger Prozess also, in dem Tausende von Menschen ihre Kreativität unter Beweis stellen sollten und konnten.

Bei dieser Umsetzung war der Phantasie lokal Handelnder kaum eine Grenze von oben gesetzt. Es begann mit „einfachen“ Erschießungen, die sich jedoch als nicht sonderlich effektiv herausstellten. Immer wieder wurden die „Methoden“ evaluiert, es wurde neu geplant, neu durchgeführt, wieder evaluiert, in einer fortlaufenden schleifenförmigen Entwicklung. Der Prozess wurde stetig verbessert.

So gelangte man von der einfachen Erschießung kleiner Gruppen, zur Erschießung größerer Gruppen, zu Massenerschießungen, zu Verbrennung in Scheunen und Kirchen, dann zu LKWs mit mobilen Gaskammern bis zum letzten Schritt, der tayloristischen Tötung, aufgeteilt in Zuständigkeiten für kleinste Arbeitsschritte. Die systemisch- kommunikativen Muster, die diesen Prozess ermöglichten, sind in Welzers Buch treffend beschrieben. Es sind Muster, die sicher auch heute identifizierbar sind.

Dass die Anwendung eines systemischen Werkzeuges, eingebettet in einen entsprechenden Referenzrahmen zur Perfektionierung eines Tötungsprozesses führen konnte, war für mich ein Schock, da ich davon ausging, dass systemisches Denken an sich solches nicht zulassen könnte. Menschen, die systemisch denken, können einander so etwas nicht mehr antun. Das systemische „Werkzeug“ allein ist offensichtlich kein Garant für die humanistisch orientierte Umsetzung desselben. Es braucht eine stützende Kultur von Haltung und Ethik um die, zeitweise auch, anscheinend gerungen werden muss, wenn sich ein gesellschaftlicher Referenzrahmen verschiebt.

Verschiebung des Referenzrahmens
Derzeit scheint für Welzer die Verschiebung des Referenzrahmens erneut stattzufinden.

Deshalb kommt der Blick auf die gelingenden Projekte, auf solidarische Organisierungen, auf humane Wahrnehmungen, auf die Kunst der gewaltfreien Kommunikation, auf Formen der Gemeinwohlökonomie und des behutsamen Umgangs mit „Gaia“ derzeit eine solch weitreichende Bedeutung zu.
Welzers Arbeiten zeigen mir, dass es auch „anders geht“ und es erheblich darauf ankommt, auf welche Vorgänge sich Beobachtung und Kommunikation richten.