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Führungslos:

Sieht so die Zukunft von Unternehmen aus? Systemiker*innen sagen: ja!

Ein führungsloses Boot, das hilf- und richtungslos in den Wellen hin- und herdümpelt, weckt keine positiven Assoziationen in uns. Wo ist der Kapitän, der das Steuer in der Hand hält und seine Crew sicher durch die wilde See manövriert? So oder ähnlich dürfte der erste Gedanke aussehen, der uns in den Sinn kommt. Genau darum geht es aber heute in Unternehmen, die sich modern und agil dem Wandel anpassen wollen. Sie plädieren für Verzicht auf Hierarchien, Verzicht auf die oberste Führungspersönlichkeit. Kann das gutgehen? Eine sich selbst organisierende Organisation, ein Fisch mit Schwanz und Rumpf zwar, aber ohne Kopf?

Systemiker*innen sagen: ja, unbedingt!

Warum? Zunehmende Umweltdynamik, disruptive Produkt- und Geschäftsmodellveränderungen, die vielfach gelobte Innovationskraft von Start-Ups drängen heute etablierte Unternehmen, sich mit agileren, flexibleren und innovativeren Organisationsansätzen zu beschäftigen. In dem Bemühen um ein möglichst optimales Organisationsdesign spielt Selbstorganisation eine zentrale Rolle. Start-Ups, mittelständische Unternehmen aber auch Konzerne explorieren, wie sie mit neuen Formen der Zusammenarbeit hierarchische Führungsverhältnisse abschaffen können. Einfühlungs- und Reaktionsvermögen sind heute entscheidende Führungskompetenzen. Organisationen müssen sich neu erfinden, wenn sie überleben wollen.

Drei Entwicklungen im aktuellen Kontext zeigen die Grenzen traditioneller Organisationsformen und die Notwendigkeit neuer Antworten auf:
1. Die digitale Transformation zwingt Organisationen, ihre internen Prozesse und Strukturen konsequent von ihren Kund*innen her zu denken.
2. Wegen der zunehmenden Volatilität müssen Organisationen mit Unerwartetem kreativ umgehen können. Übliche hierarchische Führungspraktiken sind damit überfordert. Lösungen müssen disziplinübergreifend erarbeitet werden.
3. Organisationen müssen heute berücksichtigen, dass sich ihre Mitarbeiter*innen einen Job wünschen, der ihnen sinnhaft erscheint. Selbstbestimmtes Arbeiten ist vielen deshalb sehr wichtig.

Was bedeutet Selbstorganisation?

Wirtschaftsphilosoph, Bestsellerautor und New-Work-Experte Frédéric Laloux sagt: „Es gibt eine Erkenntnis, über die niemand spricht: Es macht heute keinen Spaß mehr, Top-Führungskraft zu sein. Die Arbeit an der Unternehmensspitze ist zu einem »Rat Race« verkommen. Jeder ist unglaublichem Druck ausgesetzt, den alle irgendwie auszuhalten versuchen. Im Grunde bewegen sich fast alle am Rande des Burnouts.“ Laloux glaubt, dass wir es mit einer grundlegenden Krise des Managements unserer Institutionen zu tun haben. In der Konsequenz kehrten immer mehr Führungskräfte der Wirtschaftswelt den Rücken. Sie tun dies, so Laloux, teils wegen eines Burnouts, wegen einer Erkrankung oder Scheidung, die sie ihr Leben überdenken lässt. Einige aber realisierten auch schlicht: „Ich weiß nicht, ob ich all das wirklich noch länger tun will. Da draußen muss es ein besseres Leben geben.“

Bei seinen Recherchen stieß der New Work-Experte auf eine Reihe von Unternehmen, gegründet von Führungskräften, deren persönlicher Weg sie befähigt hat, auf ihre Arbeit, ihr Management und ihre Organisationen in neuer Weise zu schauen. Selbstmanagement und Hierarchiefreiheit identifiziert Laloux als zentrale Merkmale einer Organisation, die einen evolutionären Zweck verfolgt. Das bedeutet: Jenseits des reinen Geldverdienens und der Steigerung der Marktanteile hat die Unternehmung einen sinnvollen Daseinszweck. Und sie hat ein wachsames Auge darauf, wohin sie dieser Zweck führt. Damit verbunden sind ein deutliches Anwachsen der Verantwortung des Einzelnen sowie eine höhere Dezentralisierung von Planungs- und Steuerungsaufgaben. Die in Laloux‘ Sinne reife Organisation, die er als lebendigen Organismus begreift, weist ein Minimum an formal ausgewiesenen Führungspositionen auf.
Sie ist durch 3 Aspekte gekennzeichnet:

1. Die Organisation funktioniert ohne Hierarchie. Personen und Teams entscheiden eigenständig, wie sie ihre Arbeit aufteilen.
2. Der „ganze Mensch“ kann in einer Organisation tätig sein und bringt nicht nur seine Arbeitskraft in die Organisation ein. Er darf so sein, wie er tatsächlich ist. (In konventionellen Organisationen fühlten sich die Menschen häufig gezwungen, eine professionelle Maske zu tragen. Wenn sie so viel von dem, was sie ausmacht, hinter einer Maske verstecken, trennten sie sich auch von einem Großteil ihrer Energie, Kreativität und Leidenschaft.)
3. Die Organisation richtet sich nach einem Sinn aus, der die Mitarbeitenden antreibt.

Organisationen sind sich selbst erzeugende Systeme

Aus einer systemtheoretischen Perspektive sind Organisationen per se sich selbst erzeugende soziale Systeme, die einmal in Gang gesetzt, ihrer eigenen Melodie folgen, die sich durch spezifische Mitgliedschaftsregeln von außen abgrenzen und sich durch kontinuierliche Herbeiführen von Entscheidungen reproduzieren. Zur Überlebenssicherung definieren Organisationen spezifische Bereiche, die sich auf das Fortbestehen der eigenen Funktionstüchtigkeit spezialisieren. Die mit diesen Spezialfunktionen verknüpften Aufgabenfelder können mit dem Begriff „Führung“ umschrieben werden. Führung ist demnach ein Aspekt in der laufenden Selbstorganisation von Organisationen.

Es gibt also nachvollziehbare Gründe, die aktuell dafür sprechen, wesentliche Führungsaufgaben in die Selbststeuerung von Teams zu integrieren und dabei auf feste hierarchische Über- und Unterordnungen zu verzichten, weil anders mit der Komplexität der heute zu bewältigenden Aufgaben nicht mehr zurande zu kommen ist. Während hierzulande der Abschied überkommener Strukturen vielen schwerfällt, ist in skandinavischen Ländern der Verzicht auf feste Hierarien längst Usus im Arbeitsalltag. Die niederländische Autorin Maike van den Boom fand heraus, warum die Nordlichter so glücklich mit ihrem Job sind: „Sie vertrauen einander und hören zu – und fragen immer wieder nach dem Warum.“ „Ich mach mir den Job , wie er mir gefällt“, so könnte man die Devise der Menschen im Norden überschreiben. Pippi Langstrumpf, die bekannte Figur der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren, ist ein Paradebeispiel für das Entwicklungsziel im Norden, sich selbst treu zu bleiben, selber zu denken, eigenverantwortlich zu handeln, unabhängig von Erwartungen und Vorgaben.

Soziokratie: Verantwortung Aller

Neben Laloux‘ Organisationstypus gibt es weitere aktuelle Ansätze zu mehr Selbstorganisation. In der Soziokratie tragen die Mitarbeitenden Mitverantwortung für den Erfolg der Organisation als Ganzes. Entscheidungen werden in diesem Modell nach dem Konsentprinzip getroffen. Die an der Entscheidungsfindung Beteiligten müssen sich zwar nicht einig sein, aber sie müssen ihr Einverständnis für einen Lösungsvorschlag geben, der geeignet und realisierbar erscheint. Dadurch bekommen Entscheidungen eine hohe Akzeptanz, sie werden mitgetragen und der*die Einzelne erhält mehr Einfluss als bei demokratischen Mehrheitsentscheidungen.

Der Aufbau der soziokratischen Organisation erfolgt in Kreisen, die innerhalb ihrer Grenzen autonom ihre Grundsatzentscheidungen treffen. Die Kreise sind über die Teilnahme von mindestens 2 Personen an beiden Kreissitzungen jeweils doppelt verknüpft. Die Besetzung wesentlicher Funktionen werden in offenen Wahlen nach dem Konsentprinzip entschieden. Der Ansatz bietet viele Gestaltungsmöglichkeiten, ist in der Praxis aber sehr anspruchsvoll: Führungskräfte müssen Verantwortung abgeben, Mitarbeitende müssen Verantwortung übernehmen, alle Beteiligten sind als gleichwertig zu betrachten.

Holakratie: transparente Entscheidungen, partizipative Beteiligung

Stark diskutiert wird derzeit auch das Holakratie-Konzept, das vor allem durch eine transparente Entscheidungsfindung und partizipative Beteiligungsmöglichkeiten geprägt ist. Die „Holakratie-verfassung“ baut auf klaren Rollenbeschreibungen, überlappenden Kreisstrukturen zur Unterstützung der Kommunikation und der Unterscheidung von Zuständigkeits-/ Entscheidungsbefugnissen und operativen Prozessen auf. Die Organisationsform ziel auf klare Prozesse und Verantwortlichkeiten ab, vereinfachte und dezentralisierte Entscheidungen und die persönliche Entwicklung der Mitarbeiter*innen. Indem häufig kleine Kurskorrekturen vorgenommen werden, sollen langwierige Grundsatzplanungen und unbewegliche Bürokratie vermeiden werden. Entscheidungen werden im Sinne einer dynamischen Steuerung auch jederzeit verändert, wenn sie sich in der Praxis nicht bewähren. Herausfordernd an diesem Konzept ist seine Einführung: Nicht jede*r Mitarbeiter*in und auch nicht jede Führungskraft kann mit der neuen Entscheidungsfreiheit umgehen. Häufige Stolpersteine sind auch die Klärung der Verantwortlichkeiten und die Übernahme der Rollen.

Valve, einer der größten Hersteller von Computerspielen, wurde 1996 gegründet. Das Unternehmen entwickelte ein Organisationsdesign, in dem die Mitarbeiter*innen flexibel und autonom entscheiden können, an welchen Spielen sie arbeiten möchten. Sie bestimmen selbst, welche Spiele das Unternehmen vorantreiben soll. Dafür brauchen sie allerdings Ressourcen, deshalb müssen die Mitarbeiter*innen für ihr gewünschtes Produkt werben und überzeugen. Sie entscheiden kollektiv über den individuellen Beitrag und damit über das Gehalt. Auch über Einstellungen und Kündigungen wird in der Gruppe entschieden. 

Scrum – Selbstorganisation im Kleinen

Wenn es um Hierarchieabbau geht, dann laufen solche Veränderungen unter dem Leitmotiv der Agilität. Agil-Werden ist zur unbestrittenen Maxime von Change-Anstrengungen geworden. Agilität verzichtet auf die exakte Planbarkeit von Projekten und setzt demgegenüber konsequent auf ein iteratives Vorgehen. In iterativen Schleifen werden Zwischenlösungen erstellt, mit deren Hilfe jeweils aktualisierte Rückmeldungen von Kund*innen eingeholt und verarbeitet werden können. Eine der verbreitesten agilen Methoden ist Scrum, ein streng regelbasierter Ansatz für flexible, autonome und dynamische Teamarbeit durch sich selbst organisierende Projektteams mit überlappenden Entwicklungsphasen und einer eigenen zeitlichen Rhythmik (Sprints eingebettet in Phasen der Reflexion und der Neukonzeption des Produkts). Die Produktivität basiert auf der Zuweisung verschiedener Rollen (Scrum Master, Product Owner, Crossfunctional Teams), die im Zusammenspiel die erforderlichen Steuerungsfunktionen innerhalb der Projekte übernehmen. Erfolgskritisch sind vor allem die Prozesssteuerungsaufgaben, die in der Rolle des Scrum Masters gebündelt sind.

Viele Organisationen, die daran arbeiten, Selbstorganisation in der gesamten Organisation zu realisieren, haben im Rahmen von Teamarbeit oder einzelner Funktionsbereiche bereits erste Erfahrungen mit agilen Methoden, wie z.B. Scrum, gesammelt. 1:1 übertragen lassen sich diese Erfahrungen aber nicht. Nicht für jede unternehmerische Herausforderung sind agile Arbeitsformen das Mittel der Wahl. Wichtig ist ein klares externes bzw. internes Verhältnis, d.h. einen Kunden (der auch ein interner Auftraggeber sein kann), der ein hochkomplexes Problem mit vielen Unbekannten lösen muss. In diesem Fall macht es Sinn, intern teambasierte Arbeitsformen zu kreiern. Im regen Austausch mit dem Kunden entstehen in iterativen Schleifen Lösungen, die zu Beginn des Prozesses sich keiner der Akteure hätte vorstellen können.

Unterschied zwischen Organisation und Team

Die Annahme, dass es in der Funktionslogik von Teams und Organisationen keinen nennenswerten Unterschied gibt, ist ein Missverständnis. Teams sind darauf angewiesen, dass sich teamintern keine hierarchischen Einflussunterschiede bilden und verfestigen. Führungsaufgaben werden situativ und im Wechsel wahrgenommen. Genau das ist Selbststeuerung. Wenn Organisationen entscheidungsfähig bleiben wollen, brauchen sie aber hierarchische Ebenen. Diese sind dazu da, die nie ganz vermeidbaren Tendenzen zur Selbstblockade aufzulösen. Überträgt man die Funktionslogik von Teams auf komplette Organisationen, werden wesentliche Führungsaufgaben, die das Gesamtsystem betreffen, zu wenig berücksichtigt – z.B. die Klärung von Ressourcenfragen, der Blick nach außen, der Umgang mit heiklen Personalentscheidungen oder die Lösung schwerwiegender Zielkonflikte.
Autoritätspersonen braucht die Organisation!

Wer Führung vermeiden will, befindet sich in einer paradoxen Situation: Es muss unsichtbar bleiben, dass die Selbstorganisation im Kontext einer Organisation allseits akzeptierte, außer Streit gestellte Autoritätsfiguren, wie z.B. Gründer, unter deren Schutz sich selbststeuernde Formen der Arbeitsorganisation erst entfalten und stabilisieren können. Sollten diese Personen irgendwann nicht mehr da sein, muss ein funktionales Äquivalent geschaffen werden, ohne dass dieser Wechsel allzu sichtbar werden darf. Diese Invisibilisierungsleistung ist in solchen Organisationen Teil der wertgeprägten Organisationskultur, die aber nur mit Überzeugungstätern als Beschäftigte funktionieren kann.

 

Quellen:
• Thomas Schumacher und Rudolf Wimmer, Organisationsentwicklung, Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management, Ausg. 2/19,  „Der Trend zur hierarchiearmen Organisation“, S. 12-18
• Frédéric Laloux, Reinventing Organizations, 2014
• Maike van den Boom, Acht Stunden mehr Glück, 2018

 

Autorin: Claudia Dolle Unternehmenskommunikation Systemisches Zentrum